Politik mit der Abrissbirne

Tausende Wohnhäuser will die Moskauer Stadtverwaltung abreissen, und bis zu einer Million BewohnerInnen sollen umziehen. Doch hat der Widerstand die Behörden wirklich vorsichtiger werden lassen?

 

Der Saal im Palast der Jugend in Choroschewo-Mnewniki, einem Stadtbezirk im Nordwesten Moskaus, platzt aus allen Nähten. Die Zuspätgekommenen haben sich vor der Türe auf Stühle gestellt, dahinter strecken sich zwei junge Frauen auf ihre Zehenspitzen. Drinnen im Saal ist die Stimmung angespannt: „Wir wollen nicht wegziehen. Wir haben in diesem Viertel unsere Kinder erzogen“, sagt eine Frau aufgebracht in ein Mikrofon.

Ausgelöst wurde der Ärger an diesem Abend durch gigantische Wohnbaupläne der Moskauer Stadtregierung. Tausende von Wohnblöcken sollen in den kommenden zehn bis 15 Jahren abgerissen und ihre BewohnerInnen umgesiedelt werden. Die Stadtverwaltung spricht von bis zu einer Million betroffener Personen. Die Verunsicherung ist gross. Der nächste Redner an der Bürgerversammlung erkundigt sich nach der gesetzlichen Grundlage für die Abrissaktion. Zwischenrufe aus dem Publikum unterbrechen ihn: „Es gibt keine. Die ganze Aktion ist gesetzeswidrig!“ Auf der Bühne steht Sergej Panfilow. Der Bezirkschef von Choroschewo-Mnewniki versucht die Lage zu beruhigen: „Ihr seid Bürger der Russischen Föderation, Moskauer. Es gilt die russische Verfassung. Gegen euren Willen wird euch niemand umsiedeln“. Ein Teil des Publikums applaudiert, andere schütteln den Kopf. „Wers glaubt“, sagt eine Pensionistin zu ihrer Sitznachbarin.

Abgerissen werden vor allem alte Plattenbauten. Die Rede ist von den sogenannten „Pjatietaschkis“ (dt. fünfstöckige Häuser), welche zwischen den 50er und späten 70er Jahren überall in der Sowjetunion errichtet wurden. Alleine in Choroschewo-Mnewniki stehen heute noch mehr als 200 solcher Wohnblöcke. Eigentlich will Moskau die meist aus fertig montierten Betonplatten errichteten Bauten schon seit den 90er Jahren dem Erdboden gleich machen. Der ehemalige Bürgermeister Juri Luschkow hat ein entsprechendes Modernisierungsprogramm gestartet. „Wir wissen schon lange, dass sie unser Haus abbrechen wollen“, sagt Anna Podgaewskaja nach der Protestversammlung. Private Investoren hätten ihren Wohnblock abreissen und einen Neubau errichten sollen. Bis heute sei aber nichts passiert, erzählt die junge Künstlerin die gemeinsam mit ihrer Mutter unweit vom Palast der Jugend in einem fünfstückigen Plattenbau wohnt.

Nun kann es der Moskauer Stadtregierung plötzlich aber nicht schnell genug gehen. Bürgermeister Sergej Sobjanin traf sich im Februar mit dem Präsident Wladimir Putin, der Sobjanin den Auftrag erteilte, nicht länger unnötig Gelder für die Renovation alter Gebäude aufzuwenden, sondern lieber gleich neu zu bauen. Durch eine Gesetzesänderung soll die Abrissaktion rechtlich legale Grundlagen erhalten. Im Text werden die „Pjatietaschkis“ aber nicht explizit erwähnt, sondern die Rede ist von Renovierungszonen. Tritt das Gesetz in dieser Form in Kraft, werden die Befugnisse der Behörden massiv ausgeweitet. Die Stadtregierung erhält das Recht, jedes beliebige Gebäude, das in dem Gebiet steht, abzureissen. Auf der Homepage der Stadtregierung werben Bilder von modernen, farbigen Hochhäusern mit viel Glas und Grünflächen für das Umzugsprogramm. Während einer Frist von 60 Tagen können die BesitzerInnen der betroffenen Wohnungen den angebotenen Ersatzwohnungen entweder zustimmen oder gerichtlich dagegen vorgehen.

Viele MoskauerInnen wehren sich jedoch gegen den staatlich verordneten Wohntraum. In den sozialen Netzwerken formiert sich Widerstand. Für Mitte Mai ist eine Demonstration gegen die Abrissaktion geplant. Die Menschen ärgert vor allem, dass nicht nur baufällige Plattenbauten, sondern auch neuere Wohnhäuser aus Backstein abgerissen werden könnten. „Unser Haus wird Sobjanin noch um fünfzig Jahre überleben. Wir leben sehr gut darin“, sagt eine Frau an der BürgerInnenversammlung. Nicht alle sind kategorisch gegen einen Umzug. „Gegen ein grösseres Bad hätte ich nichts einzuwenden“, sagt Julia Murawjowa. Im Bad ihrer „Pjatietaschka“ habe sie nicht mal Platz fürs Katzenkistchen. Für die Lehrerin spricht jedoch gegen eine Umsiedelung, dass sie die günstige Lage ihrer Wohnung unmittelbar neben einer Metrostation nicht aufgeben und sich in einem gesichtslosen Neubauqartier in einer Industriezone wiederfinden will.

Die Regierung versucht die Proteste klein zu reden. 80 Prozent aller Moskauerinnen würden das Renovationsprogramm unterstützen, wird behauptet. Im Staatsfernsehen bitten Menschen vor alten „Pjatietaschkis“ Bürgermeister Sobjanin um eine bessere, modernere Wohnung. Julia Grabowskaja ist anderer Meinung. „Was die Behörden ist uns machen ist eigentlich Diebstahl“, sagt die Marketingfachfrau. Ihre Wohnung im zweiten Stock einer „Pjatietaschka“sei ihr wichtigster Besitz, ihre Altersvorsorge sozusagen. Auf dem Küchentisch stehen Tee und Süssigkeiten. Im Wohnzimmer zwitschern zwei Nymphensittiche. Jetzt drohe ihr faktisch die Enteignung. Ihre Wohnung liegt günstig. In fünf Minuten erreicht sie die Metrostation Aeroport im Norden der russischen Hauptstadt. Die Lage der Ersatzwohnung werde sicher schlechter sein. „Möchte ich diese später wieder verkaufen, erhalte ich sicher nicht den selben Preis wie für meine jetzige“, sagt Grabowskaja. Und eine Wohnung an der Stelle ihres alten Wohnblocks könne sie sich dann schon gar nicht mehr leisten.

Der fünfstöckige beige Plattenbau mit den ockerfarbenen Balkonen macht auf den ersten Blick keinen baufälligen Eindruck. Die Fliesen im typischen Schachbrettmuster im Treppenhaus sind zwar abgetreten aber sauber. Die 45-jährige lebt alleine auf 44 Quadratmetern. Einzig bei der Einrichtung hat die Wohnung ein paar Tücken, meint sie. Da die Heizungsrohre bei diesen alten Häusern in der Wand verlegt wurden, können im Winter während der Heizperiode keine Möbel vor die Rohre gestellt werden. Die Wärmeabgabe in die Wohnung blockiert und es beginnt zu schimmeln.

Die Wohnung hat Grabowskaja von ihren Grosseltern geerbt. Ihr Grossvater arbeitete beim Bau der Moskauer U-Bahn. Den Plattenbau bauten die Metroarbeiter 1961 für sich und ihre Grosseltern zogen aus einer grossen Kommunalwohnung im Stadtzentrum, die sie mit einer anderen Familie teilten, in die neue Wohnung. Wie viele profitierten sie von einer Wohnungsbaukampagne des ehemaligen sowjetischen Partei- und Regierungschefs Nikita Chruschtschow, der nach dem Tod von Stalin 1953 mit dem Versprechen, jeder Familie eine kleine Wohnung zur Verfügung zu stellen, an die Macht kam. Zu der Zeit herrschte in der Sowjetunion Wohnungsnot. Auch zehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs lebten viele Menschen noch immer in Kommunalwohnungen, Baracken oder Kellern. Um möglichst rasch ausreichend Wohnraum zu schaffen, wurden Fertigteile entwickelt, die auf der Baustelle nur noch montiert werden mussten. Zwischen 1955 und 1970 zogen so 132 Millionen SowjetbürgerInnen in eine neue Wohnung. Rasch wurden im ganzen Land eintönige, gleichförmige Quartiere hochgezogen. In den „Chruschtschowkis“, wie die Plattenbauten auch genannt werden, blieben Bauqualität und Komfort jedoch oft auf der Strecke. Enge, überheizte Wohnungen in denen sich die Menschen kaum umdrehen konnten, waren die Folge. Zudem hatten die „Chruschtschowkis“ derart dünne Wände, dass sämtliche Geräusche der Nachbarn hörbar waren. Die Wohnblöcke der ersten Serien verfügten gerade mal über vier oder fünf Stockwerke. Von Gesetzes wegen hätten höhere Gebäude mit einem Lift ausgerüstet sein sollen und die Produktion von Aufzügen steckte noch in den Kinderschuhen. Neuere, weiterentwickelte Bauserien aus Backstein erhielten dann auch einen Aufzug.

Gerüchte und Vermutungen, wer denn ein Interesse am Abriss der „Chruschtschowkis“, haben könnte, kursieren dieser Tage in Moskau einige. Es seien die Banken oder SpekulantInnen, die an Baugrund an lukrativen Lagen interessiert seien, ist zu hören. Im kommenden März werden in Russland Präsidentschaftswahlen abgehalten. Präsident Putin habe als erster öffentlich über die Abrissaktion gesprochen, meint Grabowskaja: „Die Leute geben dem die Schuld, welcher die Ankündigung als erstes gemacht hat“. Sie schliesst nicht aus, dass die Abbruchaktion negative Auswirkungen auf Putins Rating haben könnte. Die Marketingfachfrau will sich gegen einen Abriss ihrer Wohnung wehren. Sie überlegt sich eine Teilnahme an der Demonstration gegen den Abbruch Mitte Mai – zum ersten Mal in ihrem Leben.

Nach den zahlreichen wütenden Reaktionen gelobten die Behörden Besserung. Die Meinung der Menschen müsse berücksichtigt werden, hiess es. Präsident Putin beeilte sich zu versichern, er werde kein Gesetz unterzeichnen, das die Eigentumsrechte russischer BürgerInnen verletze. Nun dürfen die BesitzerInnen der betroffenen Wohnungen abstimmen. Sind in einem Wohnblock zwei Drittel dagegen, bleibt das Haus stehen. Die Stadtregierung hat Anfang Mai eine Liste den Häusern veröffentlicht, die abgerissen werden sollen. Anstatt der ursprünglich angekündigten 8000 Plattenbauten stehen darauf jedoch nur rund 4500 Adressen. Endgültig feststehen soll die Liste der abzureissenden Häusern im Herbst, nach dem die Gesetzesänderungen in Kraft getreten sind.

Das bei der Abstimmung alles mit rechten Dingen zugeht hält Grabowskaya aber kaum für möglich. Fraglich ist, ob tatsächlich die Proteste der MoskauerInnen die Behörden zum Einlenken bewogen hat. Es könnten auch die riesigen Kosten sein. Allein in den ersten drei Jahren kostet die Abrissaktion umgerechnet fünf Milliarden Schweizer Franken und reisst ein empfindliches Loch in das Budget der Hauptstadt. Auch an der BürgerInnenversammlung in Choroschewo-Mnewniki wird den Beteuerungen des Bezirkschefs, niemand werde ohne seine Zustimmung umgesiedelt, kaum geglaubt. Die BeamtInnen gelten in den Augen der Menschen als korrupt. „Ob durch einen Investor oder die Regierung macht keinen Unterschied. Euer Haus wird abgerissen“, sagt einer draussen vor dem Palast der Jugend. An der Gebäudefassade prangt ein Gemälde: Vier Mädchen halten sich an den hochgestreckten Händen. Die Versammlung löst sich nur langsam auf. Die Leute stehen zusammen, rauchen, diskutieren weiter. Umziehen, das Viertel verlassen, will kaum jemand. Die Menschen befürchten eine Verschlechterung ihrer Lebensumstände, haben Angst ihr Eigentum zu verlieren und das sie für die Interessen von Investoren an den Stadtrand in Quartiere verdrängt werden, bei denen es an ausreichender Infrastruktur wie Metroanschluss oder Schulen fehlt. In den Medien würde von ihnen stets nur als AuswandererInnen geschrieben, sagt Lehrerin Murawjowa und verzieht das Gesicht. „Ich bin doch in meinem eigenen Land keine Auswandererin“.

Der Text ist zuerst am 11.Mai 2017 in der WOZ erscheinen

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