Fernseher gewinnt gegen Kühlschrank

Erstmals überhaupt hat sich in Russland eine konsumwillige Mittelschicht gebildet, die vom friedlichen Leben in unberührter Natur träumt. Aber die Idylle ist akut gefährdet.

Ein Eigenheim, spielende Kinder auf der Straße, Fußballfelder, Spielplätze und viel unberührte Natur – ein Traum vom Leben im Grünen. Einziger Schönheitsfehler: Das klassische mittelständische Idyll entstammt nicht dem Fotoalbum einer realen russischen Familie, sondern einem Werbefilm für eine Datscha-Siedlung vor den Toren Moskaus.

Unzählige solcher Siedlungen sind mittlerweile im Schatten der riesigen Trabantenstädte unmittelbar jenseits der Grenze der russischen Hauptstadt entstanden. Der Traum von einer besseren Zukunft mit guter Luft, ohne die tägliche Moskauer Blechlawine, rückte durch die sprudelnden Öleinnahmen für viele nach der Jahrtausendwende plötzlich in greifbare Nähe. Bald schon machte der Begriff einer neu entstehenden russischen Mittelschicht die Runde, um deren Kaufkraft Unternehmen im In- und Ausland zu buhlen begannen. Auch die Politik malte dem Mittelstand eine rosige Zukunft: Zwischen 60 und 70 Prozent der russischen Bevölkerung sollten bis 2020 dieser gesellschaftlichen Gruppe angehören, forderte Präsident Wladimir Putin 2008 in einer Rede vor dem Staatsrat.

Von der Realität eingeholt

Die ehrgeizigen Pläne wurden aber längst von der Realität eingeholt. 2015 ist das russische Bruttoinlandsprodukt um 3,7 Prozent geschrumpft, die Reallöhne um 9,5 Prozent, während die Inflation im selben Zeitraum auf fast 13 Prozent kletterte. Erst 44 Prozent der Bevölkerung zählten Ende 2015 zum Mittelstand, so das Ergebnis einer aktuellen Studie des soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN). In Österreich sind es rund 60 Prozent der Haushalte.

Typischerweise haben Angehörige des Mittelstandes in Russland zumindest eine mittlere Ausbildung abgeschlossen und arbeiten als Spezialisten im Angestelltenverhältnis, vor allem im Dienstleistungssektor, so die RAN-Studie.

Ein einheitliches Porträt lässt sich aber nur schwer zeichnen. Menschen ganz unterschiedlicher politischer Ansichten zählen sich zum Mittelstand, Liberale wie Konservative. Zu den materiellen Statussymbolen gehören etwa ein importiertes Auto, vorzugsweise aus Deutschland oder Japan, eine Hypothek für das Eigenheim, Urlaub im Ausland, die finanzielle Möglichkeit, den Kindern eine gute Ausbildung zu bezahlen und sich eine private Krankenversicherung leisten zu können.

Während einige Soziologen davon ausgehen, dass sich der Begriff auf die russische Gesellschaft vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Einführung der Marktwirtschaft nicht anwenden lässt, wollen andere dagegen bereits eine sowjetischen Mittelschicht, die sogenannte Intelligenzija, ausgemacht haben, der etwa Akademiker und Ingenieure angehörten.

Diskutiert wird nun, wie sich die Krise auf diese soziale Gruppe auswirkt. Vor allem die starken Preissteigerungen, bedingt durch die Währungsschwankungen und Moskaus Importverbot für europäische Lebensmittel, verursachen laut RAN-Studie die größten Schwierigkeiten. Das monatliche Pro-Kopf-Einkommen ist dagegen nur wenig zurückgegangen. Waren es im Februar 2014 23.918 Rubel (ca. 309 €), betrug die Summe im vergangenen Oktober 22.597 Rubel (ca. 292 €). 60 Prozent der Mittelschicht haben deshalb eigenen Angaben zufolge seit Anfang 2014 auch keine Verschlechterung ihres wirtschaftlichen Status festgestellt.

Anders während der Krise von 2008/09. Damals reduzierte sich ihr Anteil an der Bevölkerung laut RAN von 34 Prozent 2008 in einem Jahr auf gerade einmal 16 Prozent (siehe Grafik). Zu den großen Verlierern der aktuellen Krise gehören laut der Studie Vertreter der IT-Branche sowie Budgetniki. Dazu zählen Staatsangestellte wie etwa Lehrer oder Ärzte, deren Gehalt aus dem staatlichen Budget bezahlt wird.

Kein Sicherheitspolster

Anlass für Optimismus bietet die Untersuchung aber nicht. Dauert die Krise länger, drohen viele auf der Strecke zu bleiben, eine Mittelschicht im westlichen Sinn lässt sich in Russland bis dato nur schwer finden. Der Unterschied zwischen Arm und Reich, Stadt und Land ist hier nach wie vor riesig.

Laut dem renommierten Ökonomen Ewgenji Gontmacher sind die Gehälter von rund 75 Prozent der russischen Gesellschaft derart niedrig, dass sich nur wenige ein finanzielles Sicherheitspolster, etwa für die Pension, aufbauen können. Einem mittelständischen Angestellten bleiben von seinen umgerechnet 292 € monatlich gerade etwas mehr als neun € pro Tag. Und in einer Umfrage des unabhängigen Levada-Zentrums gaben 70 Prozent an, nicht über ein ausreichend hohes Einkommen zu verfügen, um sich mehr als den täglichen Bedarf leisten zu können.

Wirtschaftsexperten erwarten auch in den kommenden Jahren keinen wirklichen Aufschwung. Aktuellen Zahlen der Weltbank zufolge sind die Reallöhne in Russland im Januar 2016 erneut um 6,3 Prozent gesunken. Viele schränken sich deshalb im Alltag ein, sparen und kaufen eher beim Diskonter als im teuren Spezialitätengeschäft ein. Um 6,3 Prozent sind die Lebensmittelverkäufe seit Anfang 2015 zurückgegangen, bei anderen Produkten fiel der Rückgang mit 8,2 Prozent im selben Zeitraum noch deutlicher aus, vor allem, da beim Autokauf gespart wird, so die RAN.

Internationale Konzerne schauen sich längst nach neuen Wachstumsmärkten um. Das größte Potenzial für die Entwicklung des Mittelstandes in den kommenden 15 Jahren haben laut dem Marktforschungsunternehmen Euromonitor International Länder wie China, die Philippinen, Indonesien oder Indien. Russland ist bei der Rangliste nicht vorn mit dabei.

Proteste bleiben aus

Anders als im Winter 2011/12, als Angehörige des urbanen Mittelstandes zu Zehntausenden auf die Straße gingen, sind politische Proteste in der aktuellen Krise bis jetzt zum großen Teil ausgeblieben. Dass das Rennen zwischen dem leeren Kühlschrank und dem vielversprechenden Fernseher bislang zugunsten des Letzteren ausgegangen ist, liegt einerseits wohl am repressiveren Kurs der russischen Behörden, andererseits ist für rund 85 Prozent der Bevölkerung der Fernseher immer noch die wichtigste Informationsquelle, nur ein geringer Teil liest unabhängige Medien im Internet. Und im Staatsfernsehen wird nach wie vor das Bild eines von innen wie außen bedrohten Russlands gezeichnet, in dem Stabilität und Wohlstand nur unter Wladimir Putin möglich sind.

In den Einkaufszentren und Restaurants im Zentrum der russischen Kapitale ist von Krisenstimmung allerdings kaum etwas zu sehen. Die Tische sind gut besetzt. Es wird flaniert, anprobiert, diskutiert und gekauft. Einzig die zahlreichen Rabattschilder lassen darauf schließen, dass die Unternehmen auf die neue Situation reagiert haben.

„Wir spüren keine Krise“, sagt Zarema Muchadschetina. Sie arbeitet in einem Schönheitssalon mitten im Kaufhaus als Maniküre, kurz blickt sie von ihrer Arbeit auf, bevor sie weiter an den Nägeln ihrer Kundin feilt. Vor allem am Wochenende lassen sich viele die Nägel machen. Aber auch Muchadschetina klagt über die Krise. Das Geld, das sie ihrer Familie nach Kasachstan schickt, sei nun längst nicht mehr so viel wert wie vorher, sagt sie.

Dieser Artikel ist zuerst am 21.3.2016 im Wirtschaftsblatt erschienen

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